Aktuelle Arbeitskämpfe in Deutschland – Wo stehen wir? [English]

(English below)

In diesen Tagen schauen viele von uns gespannt auf die Kämpfe in Frankreich. Die Bilder und Berichte von Generalstreiks, Massendemonstrationen und Auseinandersetzungen mit der Polizei auf der Straße, die uns vor allem über die sozialen Medien erreichen, geben uns große Hoffnung. Sie zeigen wie mächtig die Arbeiter:innenklasse ist, wenn sie sich organisiert, vereint und selbstbestimmt für ihre Interessen kämpft. Einige Mitglieder der Plattform sind deshalb selbst in den letzten Wochen nach Frankreich gereist, um an einzelnen Aktionen teilzunehmen und davon zu berichten. Berichte davon gibt es auf der Website der Lokalgruppe Leipzig (1,2). Doch die beeindruckenden Mobilisierungen in Frankreich verdeutlichen gleichzeitig einmal mehr den Kontrast zu unserer eigenen Situation in Deutschland, die vielerorts ganz anders aussieht. Mit diesem Text wollen wir uns die momentane Situation genauer anschauen und die Frage beantworten: Wo stehen die aktuellen Arbeitskämpfe in Deutschland und wo stehen wir als anarchistische Revolutionär:innen?

 

Denn auch hier bei uns finden aktuell Kämpfe und Mobilisierungen von Arbeiter:innen in verschiedenen Sektoren statt. Bereits im letzten Jahr gab es Tarifverhandlungen in den wichtigen Sektoren Metall und Chemie. Die Ergebnisse waren allerdings schwach und blieben teilweise deutlich hinter einem Ausgleich der grassierenden Inflation zurück. Jetzt befinden sich vor allem die Kolleg:innen im öffen

tlichen Sektor (Krankenhäuser, Erziehung, Bildung, Öffentlicher Transport), bei der Post und bei der Bahn, im Arbeitskampf. Am 27. März hat ein gemeinsamer Streiktag der Eisenbahn-Gewerkschaft EVG und der Gewerkschaft Ver.di stattgefunden, in der die Beschäftigten von Bus, Bahn und Flughäfen organisiert sind. Weil der Organisierungsgrad der Beschäftigten vor allem bei den größeren Betrieben in Deutschland ziemlich hoch ist, standen damit im ganzen Land zentrale Adern des öffentlichen Verkehrs still. Unterstützt wird der Streik auch von Teilen der Klimabewegung, die in ihm ein Mittel zur Durchsetzung einer ökologischen und sozialen Verkehrswende sehen. Der von den beiden Gewerkschaften ausgerufene “Megastreiktag” wurde im Vorfeld mit vergleichsweise starker Hetze in der bürgerlichen und reaktionären Presse überzogen. Den Gewerkschaften und ihrer Führung wird vorgeworfen, das Land zu blockieren und damit zu erpressen für Forderungen, die viel zu hoch sind.

Dabei sind die Forderungen der Gewerkschaften alles andere als besonders hoch. In vielen Branchen geht es nach drei Jahren der Zurückhaltung während der Pandemie in erster Linie um einen Ausgleich der Inflation. Die Beschäftigten in den Krankenhäusern wollen endlich wie die Held:innen bezahlt werden, zu denen sie noch während der Pandemie von den Herrschenden erklärt wurden. Doch bereits kleinste Regungen der Gewerkschaften in Richtung Konfrontation mit dem Kapital werden von diesem und seinen Lobbyist:innen in der Presse mit blanker Propaganda beantwortet.

Der Kurs der Gewerkschaften ist dabei trotz der Rhetorik ihrer Führungen und ihrer Bürokratie alles andere als kämpferisch. Hier muss kurz erklärt werden, von welchen Gewerkschaften eigentlich die Rede ist: In Deutschland gibt es grob gesagt drei Gewerkschaftszusammenschlüsse. Der erste, der DBB vereint mittelgroße bürgerliche Gewerkschaften, die 1,3 Millionen Beschäftigte, vor allem im staatlichen Apparat repräsentieren. Der zweite, die mit 2000 Mitgliedern sehr kleine anarchosyndikalistische Gewerkschaftsföderation namens FAU repräsentiert vor allem revolutionär orientierte Arbeiter:innen aus verschiedenen Sektoren – teilweise auch Leute aus prekären Sektoren wie der Plattform-Ökonomie. Und der dritte, der mit fast sechs Millionen Mitgliedern sehr große, aber von der Sozialdemokratie und dem Reformismus dominierte und durch eine starke Bürokratie gelenkte DGB, repräsentiert Beschäftigte aus allen größeren Branchen. Die Gewerkschaften EVG und Ver.di sind beide Teil des DGB und der DGB ist insgesamt auch zentral für alle anderen relevanten Arbeitskämpfe. Doch obwohl die großen Branchengewerkschaften alle Teil eines Zusammenschlusses sind, kämpfen sie nicht gemeinsam. Stattdessen steht jeder Arbeitskampf für sich, was verhindert, dass sich die Macht der Arbeiterklasse bündelt. Die Zusammenarbeit von EVG und Ver.di am 27. März war eine absolute Ausnahme und hat deshalb so viel Aufmerksamkeit erregt.

Ein anderes Problem ist die Art wie die einzelnen Arbeitskämpfe geführt werden. Der bürokratische Apparat der DGB-Gewerkschaften geht zumeist in Verhandlungen mit dem Kapital bevor überhaupt Streiks stattgefunden haben. Die Verhandlungen finden dann hinter verschlossenen Türen statt. Wenn es nicht vorangeht, dann gibt es Streiks – aber nur eintägige “Warnstreiks” und auch meist nur an einzelnen Orten. Die Gewerkschaftsführungen scheuen die Konfrontation mit dem Kapital. Sie folgen noch immer dem Pfad der “Sozialpartnerschaft”, der im 20. Jahrhundert von Staat, Kapital und Gewerkschaftsbürokratie entwickelt wurde und diktiert, dass alle “Partner” für das “gesamtgesellschaftliche Wohl” zusammenarbeiten sollen. Die ideologische Korruption der Gewerkschaftsführung wird rechtlich verstärkt durch sehr harte Streikgesetze, die “politische Streiks”, wilde Streiks und andere Formen von selbstbestimmtem Kampf verhindern.

 

Irgendwann wird dann ein Ergebnis präsentiert, ein Kompromiss mit dem Kapital, der für die Beschäftigten in Ordnung gehen soll. Es steht zu vermuten, dass auch die aktuellen Arbeitskämpfe auf ein solches Ergebnis hinauslaufen werden. Dieser Prozess ist intransparent und wird nicht von der Basis gesteuert. Im Fall des aktuellen Arbeitskampfs bei der Post gab es sogar eine basisdemokratische Abstimmung für einen richtigen Streik. Einen Tag später präsentierte die Ver.di-Bürokratie dann jedoch ein Verhandlungsergebnis, das weit hinter den Wünschen der Arbeiter:innen zurückbleibt. Und so wird auch dieser Streik vermutlich nicht stattfinden.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass wir gerade durchaus eine – für deutsche Verhältnisse – intensive

Welle von Arbeitskämpfen erleben. Doch diese befinden sich nicht in der Hand der Arbeiter:innen, sondern in der Hand der Bürokratie, die die Entfaltung von Selbstorganisation und selbstbestimmtem Kampf der Arbeiter:innen bremst und verhindert. Damit limitiert sie gleichzeitig die Möglichkeiten für gute Ergebnisse genauso wie für den Aufbau von echter Gegenmacht in den Betrieben. Dennoch sorgen die aktuellen Streiks dafür, dass die Perspektive des Arbeitskampfs und der Organisierung im Betrieb wieder mehr in das Bewusstsein vieler Linker und anderer sozialer Bewegungen wie der Klima- oder feministischen Bewegung rückt, die sonst keine Verbindung in die Betriebe haben. Doch mit dem reformistischen Kurs der Bürokratie wird es nicht möglich sein, dass die Arbeiter:innenbewegung tatsächlich zu einem vereinigenden Faktor dieser Kämpfe wird.

Als Revolutionär:innen in Deutschland befinden wir uns damit in einem Zwiespalt. Einerseits haben wir kaum Verankerung und Einfluss in den Betrieben und damit in möglichen Streikbewegungen. Andererseits sind die dominierenden Gewerkschaften so aufgestellt, dass eine revolutionäre Arbeit in ihnen für die Entfaltung selbstbestimmer und kraftvoller Kämpfe kaum möglich ist. Eine bewegungsweite Debatte darüber, ob und wie dieser Zwiespalt aufgelöst werden kann, ist dringend notwendig. Bis dahin gilt es aber die aktuellen Arbeitskämpfe von der Basis her zu unterstützen und revolutionäre Positionen in sie hineinzutragen. Dazu haben wir kürzlich auf unserer Website einige Tipps gesammelt.

On the current situation in Germany and its backgrounds

These days, many German revolutionaries are also looking eagerly at the struggles in France. The pictures and reports of general strikes, mass demonstrations and clashes with the police on the streets, which reach us mainly through social media, give us great hope. They show how powerful the working class is when it organizes, unites and fights for its interests in an self-determined way. Some of us have therefore traveled to France ourselves in therecent weeks to participate in and report on actions there. But at the same time, the impressive mobilizations in France illustrate once again the contrast to our own situation in Germany.

Here in Germany, too, there are currently struggles and mobilizations of workers in various sectors. Already last year, there were collective bargaining negotiations in the important metal and chemical sectors. However, the results were weak and in some cases fell well short of compensating for rampant inflation. Now, colleagues in the public sector (hospitals, education, public transport), the postal service and the railroads, in particular, are in industrial action. On March 27, a joint strike day was held by the railroad union EVG and the union Ver.di, which organizes bus, metro and airport workers. Because the level of organization of workers is quite high, especially in the larger companies in Germany, this meant that central veins of public transport were at a standstill throughout the country. The strike is also supported by parts of the climate movement, which see it as a means of implementing an ecological and social change in transportation. The “mega strike day” called by the two unions was covered in the run-up with comparatively strong agitation in the bourgeois and reactionary press. The unions and their leadership are accused of blockading the country and thus blackmailing it for demands that are far too high.

Yet the unions’ demands are anything but particularly high. In many industries, after three years of restraint during the pandemic, the primary concern is to compensate for inflation. Hospital workers finally want to be paid like the heroes they were declared to be by the politicians during the pandemic. But even the slightest move by the unions toward confrontation with capital is met with propaganda by the latter and its lobbyists in the press.

The course of the unions is anything but militant, despite the rhetoric of their leaderships and their bureaucracies. Here it must be briefly explained which unions we are actually talking about: Roughly speaking, there are three union confederations in Germany. The first, the DBB, unites medium-sized bourgeois unions representing 1.3 million employees, mainly in the state apparatus. The second, the very small anarcho-syndicalist union federation called FAU, with 2000 members, represents mainly revolutionary-oriented militants from various sectors and to some extent, people from precarious sectors like the gig economy. And the third, the DGB, which is very large with nearly six million members but dominated by social democracy and reformism and directed by a strong bureaucracy, represents workers from all major sectors. The EVG and Ver.di unions are both part of the DGB, and the DGB as a whole is also central to all other relevant labor struggles. However, although the major industry unions are all part of one federation, they do not fight together. Instead, each labor struggle stands on its own, which prevents the power of the working class from being pooled. The cooperation between EVG and Ver.di on March 27 was an absolute exception, which is why it attracted so much attention.

Another problem is the way the individual labor struggles are conducted. The bureaucratic apparatus of the DGB unions usually enters into negotiations with capital before any strikes have even taken place. The negotiations then take place behind closed doors. If there is no progress, then there are strikes – but only one-day “warning strikes” and also usually only at individual locations. That is why we nearly never see really big strike demonstrations. The union leaderships shy away from confrontation with capital. They still follow the path of “social partnership” developed by the state, capital and union bureaucracies in the 20th century which dictates that all partners should work together for the “greater good of German society”. The ideological corruption by union leadership is legally reinforced by very strict strike laws that prohibit “political strikes”, wildcat action and other forms of self-determined struggle.

Normally at some point in the labor negotiations, a result is presented, a compromise with capital that is supposed to be okay for the workers. It can be assumed that the current labor disputes will also lead to such an outcome. This process is non-transparent and is not controlled by the rank and file. In the case of the current labor dispute at the postal service, there was even a grassroots vote for a real strike. One day later, however, the Ver.di bureaucracy then presented a negotiation result that fell far short of what the workers wanted. And so this strike will probably not take place either.

All in all, it can be said that we are currently experiencing an intensive wave of labor struggles – by German standards. But these are not in the hands of the workers, but in the hands of the union bureaucracy, which slows down and prevents the development of self-organization and self-determined struggle of the workers. In this way, it simultaneously limits the possibilities for good results as well as for the development of real counter power in the factories. Nevertheless, the current strikes ensure that the perspective of labor struggle and organizing in the workplace is once again moving more into the consciousness of many revolutionaries and other social movements such as the climate or feminist movements, which otherwise have no connection to the workplaces. But with the reformist course of the bureaucracy, it will not be possible for the workers movement to actually become a unifying factor of these struggles.

The revolutionaries in Germany thus find themselves in a dichotomy. On the one hand, they have hardly any influence in the workplaces and thus in possible strike movements. On the other hand, the dominant unions are positioned in such a way that revolutionary work within them is hardly possible for the development of self-determined and powerful struggles. Only time will tell if and how revolutionaries and the workers movement as a whole will succeed in resolving this dichotomy.