“Was nun?” – Argentinische Anarchist:innen zum Wahlsieg von Milei

Am vergangenen Wochenende haben in Argentinien Präsidentschaftswahlen stattgefunden. Von vielen bis zuletzt als unwahrscheinlich eingeschätzt, ist aus diesen der rechte Ultraliberale Javier Milei als Sieger hervorgegangen. Während seines Wahlkampfs hatte er massive Kürzungen im staatlichen Sektor und andere Angriffe auf die erkämpften Rechte der unteren Klassen angekündigt.

Sein Wahlsieg stellt die fortschrittlichen Bewegungen und politischen Kräfte Argentiniens vor neue Herausforderungen und verlangt eine Anpassung der eigenen politischen Strategie. In einer gemeinsamen Erklärung skizzieren vier unserer Schwesterorganisationen, die in unterschiedlichen Teilen des Landes beheimatet sind, ihren Blick auf die Situation und den Weg vorwärts.
Wir haben den Text übersetzt, um ihn auch deutschen Leser:innen zugänglich zu machen und damit die Analysen der Genoss:innen weiterzuverbreiten.

Bei der deutschen Übersetzung haben wir uns eng am ursprünglichen Wortlaut orientiert und diesen wo nötig mit Anmerkungen zum Verständnis ergänzt. Grundlegend sei gesagt: Der lateinamerikanischen Anarchismus verwendet den Begriff “Volk” (“pueblo” im Spanischen, “povo” im Portugiesischen) nicht als nationalistischen und rassistischen Ausgrenzungsmechanismus, sondern als Sammelbegriff für alle Unterdrückten der Gesellschaft, für alle, die ein objektives Interesse an der Überwindung der herrschenden Verhältnisse haben. Mit dieser Anmerkung im Bewusstsein sollte der Text gelesen werden.

Übersetzung des Texts

“Die Freiheit, zu unterdrücken, auszubeuten, zum Militärdienst zu zwingen, Steuern zu zahlen und so weiter, ist die Negation der Freiheit; und die Tatsache, dass unsere Feinde das Wort Freiheit in so unangebrachter und heuchlerischer Weise benutzen, reicht nicht aus, um uns dazu zu bringen, das Prinzip der Freiheit zu verleugnen, das das Unterscheidungsmerkmal unserer Partei ist, das der ewige, konstante und notwendige Faktor im Leben und Fortschritt der Menschheit ist.

Gleiche Freiheit für alle und daher das Recht, sich jeder Verletzung der Freiheit zu widersetzen, und zwar mit brutaler Gewalt, wenn die Gewalt auf brutaler Gewalt beruht und es kein besseres Mittel gibt, sich ihr erfolgreich zu widersetzen…”

– Errico Malatesta, “La Questione Sociale” 25. November 1899

Am Ende hat Milei gesiegt. Er ist das Produkt repräsentativen demokratischen Systems, das sich im Zerfall befindet. Dieser Zerfall beinhaltet die reale Möglichkeit einer Umkehrung der Errungenschaften und Rechte des Volkes. Ein Projekt für die da oben, für das die da unten abgestimmt haben. Wir bekräftigen unsere Linie der Konfrontation und Überwindung der Unbeweglichkeit, die durch die Angst vor diesem Vormarsch der ultrarechten, reaktionären und ultraliberalen Sektoren entsteht. Aber die Niederlage war keine Wahlniederlage und sie war auch nicht auf den vergangenen Sonntag begrenzt. Das Entstehen einer ultrarechten politischen Option ist kultureller und ideologischer Natur und dauert schon seit vielen Jahren an, vor allem aufgrund des “Rückzugs” eines Großteils der emanzipatorischen Projekte (Anmerkung der Übersetzung: Gemeint sind hier andere Kräfte der radikalen Linken), ganz zu schweigen von den progressistischen (Anmerkung: Als “progresista” bezeichnet der lateinamerikanische Anarchismus politische Parteien und Organisationen, die in unserem politischen Kontext wohl am ehesten als linksliberal – also sozial fortschrittlich aber ökonomisch liberal – bezeichnet werden würden) Projekten, aus der Mehrheit der Volksviertel und Gewerkschaften, des Fehlens einer konkreten Idee, wie man diesem kapitalistischen System entgegentreten kann, und eines revolutionären Projekts, das tief in die Konfrontation mit der Maschinerie der Volksverarmung geht, die Neoliberalismus genannt wird. Der Staat hat sich zahlreiche Instrumente der unteren Schichten zu eigen gemacht und institutionalisiert, indem er alle politischen Aktionen an sich zieht und die Wahlurne zum einzig möglichen Horizont für politische Aktionen macht. Dieser Mangel an Rebellion, an widerständiger Präsenz, an sozialem Kampf, wurde von einer Handvoll reaktionärer Ökonomen mit pseudofaschistischer und ultraliberaler Rhetorik gefüllt. Und das in einem Kontext, der ebenfalls von einer Wirtschaftskrise, wachsender Ungleichheit und dem Ausschluss eines großen Teils der Bevölkerung vom Zugang zu ihren grundlegendsten Bedürfnissen geprägt ist.

Der Aufstieg von Milei auf den Rivadavia-Sitz (Anmerkung: Ein historischer Sessel, den schon der erste Präsident des argentinischen Staates genutzt haben soll. Nationales Symbol präsidentieller Herrschaft.) hat ein Gemisch von Gefühlen hervorgerufen, das von Verwirrung, Unsicherheit, der Aussicht auf eine Katastrophe und vor allem von Angst geprägt ist. Angst vor der Umsetzung von Maßnahmen und Slogans, die von den Kandidaten während des Wahlkampfes vorgebracht wurden und von denen einige absurd sind und andere zum Repertoire der reaktionären und volksfeindlichen Sektoren in der Geschichte unseres Landes gehören. Es geht um die Abschaffung von Rechten, Frauenfeindlichkeit, die extreme Kommerzialisierung aller Lebensbereiche (Organhandel, Kinder und so weiter), die Anwendung von Schockdoktrinen (Anmerkung: Gemeint sind schockartige – neoliberale – wirtschaftliche Reformen) und vieles aus der Chicago School (Anmerkung: Bezeichnung für eine Schule der Volkswirtschaftslehre, die in Chicago entstand und entscheidendem Anteil am Entstehen und der Entwicklung des neoliberalen Modells hatte). In diesem Zusammenhang hat Milei bereits gewarnt, dass es “keinen Gradualismus” geben wird. Zu den schwerwiegendsten Aspekten von Mileis politischem Profil gehören auch die Rechtfertigung der illegalen Repression während der letzten Diktatur (Anmerkung: Gemeint ist die argentinische Militärdiktatur von 1976 bis 1983, bei der die rechte Junta mehr als 30.000 Oppositionelle ermorden oder verschwinden ließ.) und die Möglichkeit einer Begnadigung für die Völkermorde (Anmerkung: Der Begriff wird hier zur Beschreibung des massenhaften politischen Mordens der Junta benutzt.), was der offenen Unterdrückung des Protests und der Füllung der Gefängnisse mit sozialen Kämpfern Rückenwind geben wird.

Grundsätzlich sagen wir, dass wir den Feind nicht unterschätzen und seine Fähigkeit nicht vernachlässigen sollten, eine politische und soziale Kraft aufzubauen, die der Größe seines Projekts angemessen ist. Was den Ausgangspunkt dieser politischen Neuerung betrifft, so gibt es eine Reihe von Elementen zu berücksichtigen. Erstens hat “La Libertad Avanza” (Anmerkung: “Die Freiheit schreitet voran”, um ihn herum konstruierte Partei von Milei) noch keine territoriale Macht, sie hat noch keine eigenen Gouverneursposten und noch nicht einmal ein Bürgermeisteramt im ganzen Land errungen, so dass sie in den ersten Monaten ihrer Regierungszeit nicht über die territoriale Struktur verfügt, um einen sich verschärfenden Vormarsch gegen die unteren Schichten zu führen. Man könnte meinen, dass Macri (Anmerkung: Mauricio Macri ist ein konservativer Politiker, der von 2015 bis 2019 argentinischer Präsident war.) für eine gewisse Struktur sorgen wird (die Möglichkeit einer Koalitionsregierung Milei-Macri ist noch nicht bekannt), obwohl wir gesehen haben, wie die Vereinbarung nach den Parlamentswahlen einen wichtigen Teil davon untergraben hat und Pro (Anmerkung: “Propuesta Republicana” ist die Partei Macris.) im ganzen Land gespalten blieb.

Milei könnte auch eine andere politische Struktur als Parasit nutzen oder eine Koordinierung mit Gouverneuren und Bürgermeistern anstreben, die sich auf den Pragmatismus des Staates konzentrieren, aber das ist heute nur eine Vermutung. Wir müssen berücksichtigen, dass der gewählte Vizepräsident nicht nur die Straffreiheit für die Repressoren (Anmerkung: Gemeint sind die Militärs der Diktaturzeit) anstrebt, sondern auch die Organisation eines politischen Blocks oder einer Partei, die die “Militärfamilie” vertritt.

Andererseits hat Milei immer noch keine organisierte Basis in Gewerkschaften, sozialen Bewegungen oder Bürgerorganisationen. Er verfügt auch nicht über die Fähigkeit zur organischen Mobilisierung. Sein Wähler ist kein Kämpfer, sondern lediglich ein Agitator, zumindest bis heute. La Libertad Avanza hat es nicht geschafft, eine organische politische Kraft zu bilden (wir haben bereits gesehen, wie jedes Mitglied zu einem bestimmten Zeitpunkt seine Meinung zu einem bestimmten Thema mit einer bestimmten Position kundtut). Sie hat bei ihren letzten Wahlkampfveranstaltungen und in den wichtigsten städtischen Zentren des Landes die Straßen gefüllt, sobald der Wahlsieg bekannt war. Milei konnte mit einer bestimmten Strategie keine einheitliche Mobilisierung erreichen. Zumindest nicht auf kurze Sicht.

Der einzige Akteur bzw. die einzige gesellschaftliche Kraft, die sich in diesem Land auf allen Ebenen durchsetzen konnte, um erfolgreich volksfeindliche Maßnahmen anzuwenden, war das Militär in den aufeinander folgenden Diktaturen. Macri versuchte – mit einem bestimmten Apparat – in die Gewerkschaften einzugreifen, Proteste zu kriminalisieren, unpopuläre Reformen und eine brutale Sparpolitik voranzutreiben, ohne dem Problem auf den Grund gehen zu können, denn die Mobilisierungen gegen die Rentenreform 2017 waren – trotz der Niederlage – ein Meilenstein des Widerstands. Macri hat es weder geschafft, die Tarifverträge anzutasten, noch eine umfassende Arbeitsreform durchzuführen. Milei, der über einen weitaus geringeren Apparat verfügt, wird in einem Kongress, in dem er in der Minderheit ist, im Prinzip kein Quorum aufstellen können. Außerdem wird er, wenn er sich für ein Regieren per Dekreten entscheidet, mit dem Obersten Gerichtshof zusammenstoßen, der zwar mit mehreren Achsen der Regierung übereinstimmt, aber nicht daran interessiert ist, angesichts der zunehmenden Rechtswidrigkeit und Verletzung von Rechten, die die Politik von La Libertad Avanza mit sich bringen wird, bloßgestellt zu werden. Im Extremfall ist es schwer vorstellbar, dass Milei über genügend Macht verfügt, um einen erfolgreichen Selbstputsch durchzuführen, wie es bei Fujimori in Peru der Fall war.

Es ist auch erwähnenswert – und besorgniserregend – dass Milei nicht versucht hat, seinen Diskurs zu mäßigen, nicht einmal in der Endphase des Wahlkampfes, so dass wir warnen, dass er entschlossen ist, zumindest einen Teil seines Plans der Kürzungen gegen das Volk durchzuführen. Wir glauben, dass dies eine Periode größerer politischer, sozialer und wirtschaftlicher Instabilität einleiten wird, in der Proteste verfolgt und soziale Aktivisten inhaftiert werden, in der die Provinzpolizei freie Hand hat, um leichtes Spiel zu haben (wie es bei Bolsonaro der Fall war), in der transnationale Unternehmen – mit Unterstützung der Gouverneure – ermutigt werden, das extraktivistische (Anmerkung: Mit „Extraktivismus“ ist eine Form des Wirtschaftens gemeint, die auf Rohstoff-Export und häufig auf Raubbau basiert und vor allem in den Ländern des globalen Südens auftritt) Modell zu vertiefen, Ressourcen zu plündern, die Umwelt zu zerstören und die lokale Bevölkerung zu überfallen; die Rückkehr zum primären Sektor (Anmerkung: Der Teil der Industrie, der auf der Gewinnung nicht verarbeiteter Güter passiert, zm Beispiel Landwirtschaft und Bergbau) der wirtschaftlich-produktiven Matrix des Landes und die Deindustrialisierung zu verstärken; die Privatisierung aller Bereiche des öffentlichen Sektors voranzutreiben, zu versuchen, eine brutale Arbeitsreform durchzusetzen, das Recht auf kostenlose Unterbrechung der Schwangerschaft und umfassende Sexualerziehung anzugreifen.

Genossinnen und Genossen, es ist an der Zeit, unsere Anstrengungen zu verdoppeln und auf die größtmögliche Einheit unserer Organisationen im Rahmen einer Strategie des Volkskampfes auf der Straße zu setzen, die auf Aktionsplänen und Kraftmaßnahmen beruht. Aber es ist notwendig, die Zersplitterung und den Individualismus, die der Regierung diesen Charakter verliehen haben, zu überwinden. Es nützt nichts, wenn wir untereinander reden. Es ist unsere Aufgabe, jede Kollegin und jeden Kollegen, jede Nachbarin, jeden Nachbarn zu befragen, immer auf der Grundlage von Kampf und Basisorganisation. Wir dürfen unsere Genossinnen und Genossen nicht verfolgen oder verurteilen, weil sie so und so wählen gegangen sind. Es ist notwendig, unsere Strategie zu verstärken, die darauf abzielt, das Vertrauen in unsere eigene Stärke, in unsere eigene Handlungsfähigkeit, in das Handeln unserer Leute und ihrer Organisationen zu stärken. Wir müssen den Weg für einen aktiven, organisierten und vor allem vereinten Widerstand gegen die Vertiefung des Vormarschs derer an der Spitze ebnen. Hier ist es mehr als wahrscheinlich, dass eine ganze Reihe von Gewerkschaften und sozialen Organisationen bereit sind, auf die Straße zu gehen, bevor eine volksfeindliche Reform voranschreitet. Es ist nicht verwunderlich, dass es zu Zusammenschlüssen zwischen kämpferischen Sektoren der CGT (Anmerkung: “Confederación General de Trabajo” ist eine größere Gewerkschaft in Argentinien.) wie den Bankangestellten, den Lastkraftwagenfahrern, Aceiteros und Sektoren der beiden CTA (Anmerkung: “Central de Trabajadores y Trabajadoras de la Argenina” eine weitere Gewerkschaft) mit dem Staat, den Lehrern und den Beschäftigten im Gesundheitswesen an der Spitze kommt. Die sozialen Bewegungen, Studentenorganisationen, Umweltorganisationen, Menschenrechtsorganisationen werden in Alarmbereitschaft sein und an vorderster Front stehen, falls die ultraliberalen Kräfte uns unsere Errungenschaften wegnehmen wollen.

Anarchistische Organisation von Cordoba – OAC
Anarchistische Föderation von Rosario – FAR
Anarchistische Organisation von Tucumán – OAT
Anarchistische Organisation von Santa Cruz – OASC