Polizeimord in Frankreich: Gerechtigkeit für Naël!

Am gestrigen Dienstag haben französische Polizist:innen bei einer Verkehrskontrolle im Pariser Vorort Nanterre den 17-jährigen Naël erschossen. Als wütende Reaktion darauf entbrannten spontane Proteste und aktiver Widerstand gegen die Polizei. Diese griffen auch auf angrenzende Stadtteile über. Gleichzeitig schwadronieren Medien und Polizei von einem Einzelfall – angesichts der wiederkehrende Polizeimorde an Migrant:innen und anderen Marginalisierten in Frankreich eine Farce. Die Situation weist große Parallelen zu ähnlichen Vorfällen in Deutschland auf, zum Beispiel zum Polizeimord an Mouhamed L. Dramé vergangenes Jahr in Dortmund.

Es zeigt sich klar: Egal ob Deutschland, Frankreich oder die USA: Überall morden die Rassist:innen in Uniform! Es wird Zeit, dass wir den Widerstand gegen diese Morde verstärken! Gerechtigkeit und Wahrheit für alle Opfer von Polizeigewalt!

Um einen Einblick in die Situation vor Ort zu geben, haben wir die Erklärung unserer französischen Schwesterorganisation Union Communiste Libertaire zum Polizeimord in Nanterre auf Deutsch übersetzt.

Die Polizei mordet: Gerechtigkeit und Wahrheit für Naël und alle anderen Opfer!

In der Nacht vom 27. auf den 28. Juni begannen in der Stadt Nanterre Aufstände gegen einen weiteren Mord durch einen Polizisten.

Der Name des Ermordeten ist Naël und er war 17 Jahre alt. Naël starb am 27. Juni 2023 in seinem Auto: Er wurde von einem Polizisten aus nächster Nähe erschossen, nachdem er sich geweigert hatte, einen Befehl auszuführen. Er befand sich auf einer Busspur und versuchte zu fliehen, nachdem er von dem Polizisten, der bereits seine Waffe auf ihn gerichtet hatte, mit dem Tod bedroht worden war.

Die Polizei übernahm sofort die Version, dass das Auto auf die Ordnungskräfte zugerast sei, während die Medien sich beeilten, über das Vorstrafenregister des Opfers zu berichten. Doch ein Video der Situation zeigt, dass sich die Polizist:innen an der Seite des ursprünglich stehenden Autos befanden und ihr Leben somit zu keinem Zeitpunkt in Gefahr war.

Die Logik ist oft die gleiche, je öfter sich diese Fälle wiederholen: Es soll gezeigt werden, dass es sich um eine schlechte Person handelte, die “kriminell” oder wenig “sozial integriert” war. Einerseits geben die Medien diese Informationen ungeprüft weiter, wobei es sich sehr oft um Lügen oder Übertreibungen handelt. Andererseits und vor allem, selbst wenn es sich um wahre Tatsachen handeln sollte, rechtfertigt dies in keinem Fall einen Mord und kann auch nicht als mildernde Umstände für die Absicht, den Tod herbeizuführen, dienen. Dieses Narrativ dient einzig und allein dazu, die Straflosigkeit der Polizei in Fällen rassistisch motivierter Verbrechen zu etablieren und zu normalisieren.

Wieder und wieder: Ohne das Vorhandensein eines Videos ist die Aussage der Opfer nichts wert. Oder genauer gesagt: Sie ist nichts wert, wenn es sich um ein Mitglied der Ordnungskräfte auf der Anklagebank handelt, selbst wenn es sich um ein sich wiederholendes Szenario handelt.

Dies ist nicht weniger als der dreizehnte Mord, der seit Jahresbeginn durch die Polizei aufgrund einer Befehlsverweigerung verübt wurde. Nur fünf der dreizehn verantwortlichen Polizist:innen wurden angeklagt, die anderen wurden bislang ohne Anklage entlassen. Dies ist eine außergewöhnliche Zahl, die nicht zuletzt mit dem Gesetz von 2017 zusammenhängt, mit dem das Recht der Polizeibeamt:innen auf Waffengebrauch geändert wurde.

Man darf sich jedoch nicht über einen Anstieg insbesondere rassistischer Gewalt wundern. Denn bis in die höchsten Etagen des Staates werden Begriffe wie “Dezivilisierung”, “großer Austausch” oder “Verwilderung” verwendet, werden diskriminierende Gesetze verabschiedet oder zur Abstimmung gestellt. Was kann eine Politik bewirken, die sich die Themen der Rechten und Rechtsextremen zu eigen macht?

Dieser staatliche Rassismus findet seinen Höhepunkt in den Institutionen, hier der Polizei. Die Gewalt, die er hervorruft, wird von den Herrschenden zugelassen und toleriert. Sie bemühen sich die extreme Linke und die extreme Rechte gleichzusetzen, wie nach dem Angriff auf den Bürgermeister von Saint-Brévin, nachdem in seiner Gemeinde ein Aufnahmezentrum für Asylbewerber:innen errichtet worden war.

Machen wir uns nichts vor. Der Grund, warum der Polizist den Abzug aus nächster Nähe betätigte, war, dass er nicht glaubte, dass dies Konsequenzen haben könnte; er glaubte, dass Naëls Leben in seinen Augen und in den Augen der Gesellschaft nichts wert war.

Kann man die Verantwortung für das Töten durch die Polizei noch allein auf den Einzelnen abwälzen? War es nur ein schlechter Polizist? Nein! Die rhetorische Verwendung des strikten Verweises auf das Problem des Einzelnen, der nur einen “Fehler” begangen hat, ist unhaltbar. Das ist nur die Form eines Rassismus, den der Staat vorgibt, nicht zu sehen und der in Wirklichkeit zum Töten berechtigt.

Eine radikale Kritik an der Polizei, dieser rassistischen und kolonialen, von Rechtsextremist:innen durchsetzten Institution, die einen ganzen Teil der Bevölkerung in völliger Straffreiheit terrorisiert, ist mehr als dringlich.

Die Menschen, die Opfer des Rassismus der Institution Polizei sind, prangern diesen seit Jahren immer wieder an. Die Verweigerung ihrer Grundrechte hängt nicht davon ab, ob sie organisiert sind oder sich gegen eine Reform wie die des Rentensystems stellen; allein die Tatsache, dass sie existieren, konfrontiert sie damit. Migrant:innen leiden besonders unter dieser Gewalt, sei es auf dem Friedhof, zu dem das Mittelmeer geworden ist, in Calais, in Mayotte oder in den Auffanglagern, wo Mohamed, ein 59-jähriger Mann, vor einem Monat starb, nachdem er von Polizist:innen verprügelt worden war.

Diese Verbrechen reihen sich in eine lange Liste ein, die seit 40 Jahren, wenn nicht noch länger, besteht (wir erinnern uns an die Massenverbrechen vom 17. Oktober 1961). Zahlreiche Namen kommen uns in den Sinn: Malik Oussekine, Abdel Benahya, Zied und Bouna, Moshin und Lakhamy, Akim Ajimi, Ali Ziri, Mamadou Marega, Wissam El Yamni, Amine Bentounsi, Angelo Garan, Gaye Camara, Liu Shaoyao, Babacar Gaye, Steve Maya Caniço, Claude Jean-Pierre und viele andere mehr… Seit den starken Mobilisierungen, die Wahrheit und Gerechtigkeit für Adama Traoré forderten und die zum Leidwesen seiner Familie mit starker Repression überzogen wurden, und drei Jahre nach den weltweiten Mobilisierungen für George Floyd sind die einzigen “Antworten” des Staates ein völliges “Nein”.

Angesichts der allgemeinen Unterdrückung, die wir erleben, sind wir der Ansicht, dass die Revolten, die in Nanterre begonnen haben, Teil einer breiteren gesellschaftlichen Bewegung sind. Es geht darum, Gerechtigkeit und Wahrheit für Naël und die anderen Opfer von Polizeiverbrechen zu fordern, und wir schließen uns diesen Forderungen an.

Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen der Opfer dieser Polizeimorde.

Als unmittelbare Maßnahme fordern wir Gerechtigkeit und Wahrheit für Naël, die Abschaffung der Gesetze zur globalen Sicherheit und zum Separatismus sowie die Entwaffnung der Polizei.

Angesichts von Rassismus und Polizeigewalt: Einheit von unten!

Union Communiste Libertaire, 28. Juni 2023