Geh wählen! – oder lass es bleiben: Über die Wahlenthaltung

Der Tag der Bundestagswahl rückt näher. Im ganzen Land hängen die bunten Plakate der Parteien, die uns mit einfallslosen Sprüchen zum Gang an die Urne motivieren sollen. Von stumpfem Nationalismus und Rassismus wie bei der AfD, über inhaltsleeres Gerede über Freiheit bei der FDP, Bejubelung des hochgerüstetem Sicherheitsapparats bei der CDU, hinzu grüner Klimaheuchelei oder der Beweihräucherung der Sozialpartnerschaft bei SPD und Linkspartei – wie es scheint haben die Parteien wieder einmal für alle von uns was dabei.

Dass die Propaganda der bürgerlichen Demokratie aber in den letzten Jahrzehnten bei zunehmend weniger Menschen verfängt, die am Wahlabend lieber zu Hause bleiben als “ihr” Kreuzchen zu machen, beschäftigt seit Langem die Demokratieforschung der Republik. Aber auch abseits des gehobenen moralischen Zeigefingers, der auf die bösen Nichtwähler:innen hinabsieht, haben allerlei Menschen etwas zum Wählen und Nichtwählen zu sagen. Klar, da gibt es die “Linksradikalen”, die ihr Heil im Parlamentarismus suchen und uns ebenso wie die Verfechter:innen der bürgerlichen Demokratie von ihren Laternenpfosten auf uns hinabsehen. Und es gibt eben auch die andere Fraktion, die aktiv zum Wahlboykott aufruft, weil man dem System dem Bonzen keine Stimme geben darf.

Wir Anarchist:innen hegen traditionell natürlich einige Sympathien für letztere Position. Man denke nur an Emma Goldmans berühmten Auspruch “Wenn Wahlen etwas ändern würden, dann wären sie verboten!”. Denn natürlich, diese Wahlen werden nichts verändern, weil echte Veränderung nur durch die sozialen Kämpfe von unten kommen kann. Aber gerade weil so viele Anarchist:innen auf der ganzen Welt ausführlich geschildert haben, warum wählen gehen keine Lösung ist, ist dies kein Text, der zu einem weiteren Wahlboykott aufruft. Er ist stattdessen nur die Einleitung zu einem Text von Cameron, der Teil der US-amerikanischen Black Rose Anarchist Federation ist. Cameron setzt sich in seinem Artikel kritisch mit der üblichen Agitation gegen das Wählen auseinander – nicht um zum wählen gehen aufzufordern, sondern um aufzuzeigen, dass es nicht wirklich darauf ankommt, ob wir am Wahlabend zu Hause bleiben oder zur Urne gehen, sondern dass es darauf ankommt, was wir an den restlichen 365 Tagen im Jahr machen; im Idealfall nämlich in den sozialen Bewegungen als Anarchist:innen arbeiten und Gegenmacht aufbauen. In diesem Sinne wünschen wir euch viel Spaß beim Lesen und Diskutieren dieser Übersetzung!

Geh wählen – oder lass es bleiben: Über die Wahlenthaltung

Es ist kein Geheimnis, dass Anarchist:innen Wahlen verabscheuen, aber die meisten, die sich dem revolutionären Sozialismus verschrieben haben (von dem der Anarchismus eine Strömung ist), neigen dazu, ein vereinfachtes Verständnis davon zu haben, wie sie sich in Bezug auf das Spektakel dieser Ereignisse positionieren sollen. In diesem Artikel wird argumentiert, dass die anarchistische Konzentration auf die Wahlenthaltung als Antwortstrategie auf den Wahlkampf nicht nur unangemessen ist, sondern auch der gleichen moralisierenden Logik folgt, die von unseren Gegner:innen für die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Demokratie verwendet wird.

Die revolutionäre Linke und Wahlen

Die Frage, wie sich Sozialist:innen zur Wahl von Vertreter:innen in der bürgerlichen Demokratie verhalten sollten, ist seit mehr als 150 Jahren eine Quelle kontroverser Debatten. Tatsächlich war die Uneinigkeit in diesem Punkt (insofern sie mit der Frage des Strebens nach staatlicher Macht zusammenhängt) zu einem großen Teil für die Spaltung der Ersten Internationale verantwortlich.

Wahlen sind zweifelsohne spektakuläre Ereignisse. Mit beispiellosen Geldausgaben, einer nicht enden wollenden Berichterstattung von Jornalist:innen und auf Twitter, das immer bereit ist, dir den nächsten Hot Take zu liefern, sind Wahlen ebenso sozial als auch kulturell und politisch.

Auch heute wütet dieselbe Debatte weiter, wobei jeder Teil der sozialistischen Bewegung sein eigenes Rezept vorlegt. Die größte sozialistische Organisation in den USA (Anmerkung des Übersetzers: Gemeint sind die “Democratic Socialists of America”) stützt ihre Strategie weitgehend auf den Aufbau einer Basis innerhalb der Demokratischen Partei und die Unterstützung ihrer Mitglieder bei der Wahl in ein Amt.

Revolutionäre Sozialist:innen (einschließlich Anarchist:innen) verfolgen dagegen eine andere Taktik. Einige Gruppen in dieser Kategorie sind dazu übergegangen, aufwendige Scheinkampagnen für ihre eigenen Kandidaten zu konstruieren, die offensichtlich keine Aussicht auf Wahlerfolg haben, und nutzen sie stattdessen, um auf zynische Weise Aufmerksamkeit oder Ressourcen für ihre Organisation zu gewinnen. Andere, vor allem Anarchist:innen, haben es sich zur Gewohnheit gemacht, aus Prinzip zum völligen Fernbleiben vom Wahlprozess aufzurufen.

Um die letztgenannte Kategorie soll es in diesem Artikel gehen.

Der Moralismus des Wählens, der Moralismus der Enthaltung

Aus welchen Gründen rufen Anarchist:innen (und andere revolutionäre Sozialist:innen) zur Wahlenthaltung auf? In der Regel läuft es auf die Behauptung hinaus, dass eine Stimmabgabe bei einer bürgerlichen Wahl eine aktive Legitimierung des Staates bedeutet und daher einen Kompromiss bei unseren ideologischen Grundprinzipien darstellt.

Dies ist ironischerweise dieselbe Logik, die von denjenigen (in der Regel liberale Befürworter:innen der Demokratie) angewandt wird, die behaupten, man müsse wählen gehen, um nicht für den Schaden verantwortlich zu sein, den die Oppositionspartei anrichtet. Dies ist ein vertrauter Refrain, der seit 2016 in den Köpfen einer Vielzahl von US-Linken widerhallt.

Beide Positionen sind jedoch zutiefst fehlerhaft, da sie Fragen, die in der materiellen Realität der politischen Macht, den Bedingungen und der Funktionsweise des Staates wurzeln, auf ein individuelles moralisches Kalkül reduzieren. Das mag man von Liberalen erwarten, aber warum haben Anarchist:innen weitgehend denselben Bezugsrahmen übernommen?

Lasst uns dies näher untersuchen.

In diesem Rahmen leiten sowohl revolutionäre Sozialist:innen als auch Liberale ihre gegensätzlichen Schlussfolgerungen aus demselben moralischen Schema ab, in dessen Mittelpunkt eine zentrale Frage steht: Wie kann ich meine Mitschuld an der Legitimierung der Handlungen des Staates am besten verringern?

Obwohl der revolutionäre Sozialist – im Gegensatz zum Liberalen – über genügend Klarheit verfügt, um zu erkennen, dass der Staat selbst ein Instrument der Kapitalist:innenklasse ist, scheinen wir uns oft nicht von der grundlegenden Logik lösen zu können, die behauptet, dass das einzelne Individuum und seine Handlungen grundsätzlich für die Legitimität des Staates konstitutiv sind. Dies ist die so genannte Zustimmung der Regierten, auf der alle repräsentativen Demokratien angeblich beruhen und die Anarchist:innen historisch abgelehnt haben.

Stattdessen haben Anarchist:innen eine Theorie des Staates entwickelt, die behauptet, dass die Prozesse der Staatsbildung, -reproduktion und -legitimation durch eine Kombination von Zwangsgewalt (Militär, Polizei, Gefängnisse) und ideologischer Konditionierung (über Institutionen der Zivilgesellschaft wie Schulen, Medien usw.) erfolgen.

Einfach ausgedrückt: Der Staat braucht deine Erlaubnis nicht, um zu existieren, geschweige denn, um seine ungeheuerlichsten Aktivitäten auszuführen.

Es ist daher seltsam, dass die meisten Anarchist:innen die Stimmenthaltung befürworten, da diese sich der Logik der Zustimmung der Regierten anschließt. Anstatt sich die anarchistische Theorie des Staates zu eigen zu machen und ernsthafte Strategien für die Entwicklung von Gegenmacht zu entwickeln, greifen wir zu der bequemen moralistischen Sprache des Boykotts und des Entzugs der Zustimmung.

Über die Stimmenthaltung hinausgehen

Wie oben gezeigt wurde, basiert die Wahlenthaltung auf einer Annahme der liberalen politischen Theorie, die mit der anarchistischen Theorie des Staates unvereinbar ist. Dementsprechend müssen wir über unser Vertrauen in die Wahlenthaltung hinausgehen und eine tatsächliche strategische Orientierung in Bezug auf Wahlen und staatliche Macht entwickeln.

Es sollte klar genug sein, dass dieser Artikel keine aktive, enthusiastische oder wirklich irgendeine Art von Auseinandersetzung mit dem Wahlsystem als Lösung vorschlägt. Vielmehr wird hier die Auffassung vertreten, dass die Frage der Wahlbeteiligung gänzlich aus unserer Betrachtung gestrichen werden sollte. Weder Wahlenthaltung noch Wahlbeteiligung stellen eine aktive Strategie dar. Mehr als einen Moment über diese Frage nachzudenken oder, schlimmer noch, darüber zu moralisieren, ist für jede:n ernsthafte:n Revolutionär:in eine tiefe Zeitverschwendung.

Unsere unmittelbarste Aufgabe ist es, uns als eine Klasse zu organisieren, die in der Lage ist, ihren Willen sowohl gegenüber dem Staat als auch dem Kapital durchzusetzen. Das bedeutet, unabhängige, dauerhafte Organisationen der sozialen Bewegung aufzubauen oder zu stärken, die es uns ermöglichen, kollektive Macht in unserem täglichen Leben aufzubauen und auszuüben. Gewerkschaften am Arbeitsplatz, Mieter:innengewerkschaften zu Hause, Schüler:innengewerkschaften in der Schule und öffentliche Versammlungen in unseren Stadtvierteln. Kurz gesagt, unser Ziel muss es sein, Macht von unten zu schaffen.

Anarchist:innen, insbesondere diejenigen, die sich die Strategie des Especifismo zu eigen machen, erkennen, dass es unsere Aufgabe ist, uns in diesen Organisationen zu engagieren und daran zu arbeiten, ihren (basis)demokratischen, kämpferischen und revolutionären Charakter zu entwickeln.

Gegenwärtig ist das Gleichgewicht der Kräfte in diesem Land nach wie vor eindeutig zugunsten des Kapitals und des Staates verschoben. Obwohl die Massenproteste (Anmerkung des Übersetzers: Gemeint sind die antirassistischen Massenproteste des Sommers 2020 in den USA) vielversprechend waren, gibt es nur wenige Anzeichen dafür, dass die Demonstrant:innen über straßenorientierte Aktionen hinausgehen und über die oben erwähnten materiell eingebetteten Organisationen eine nachhaltige Bewegung aufbauen. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass unsere Fähigkeit, Zugeständnisse zu erreichen, davon abhängt, wie effektiv wir Druck in Bereichen ausüben können, die wir als verletzlich und wertvoll für Kapital und Staat identifiziert haben. Wir sind in der Lage zu gewinnen, aber wir müssen über die richtigen Werkzeuge verfügen.

Natürlich finden diese Kämpfe nicht in einem Vakuum statt. Die Welt dreht sich weiter, und Ereignisse von nationaler oder internationaler Bedeutung werden die Bedingungen, unter denen wir uns engagieren, verändern. Ob inmitten einer Wahl, einer Wirtschaftskrise, einer Pandemie (oder allen dreien) – wir sind nur dann effektiv, wenn wir die Situation, in der wir uns befinden, verstehen und entsprechend handeln können.

Geh wählen oder lass es bleiben, aber gib dem Aufbau von Gegenmacht den Vorrang.