«Es handelt sich also wirklich um einen Massenaufstand» – Interview zur Bewegung der Gilets Jaunes

Liebe Plattform-Interessierte,

wir sind vor einiger Zeit auf das Interview “«Es handelt sich also wirklich um einen Massenaufstand» – Interview zur Bewegung der Gilets Jaunes” des ajour-Magazins mit Anna Jaclard von der Alternative Libertaire (AL) gestoßen. Anna schildert darin ein Beispiel effektiver kollektiver Einmischung unserer Schwesterorganisation Alternative Libertaire (mittlerweile “Union Communiste Libertaire”) in die Gelbwestenbewegung in Frankreich.

Innerhalb der anarchistischen und linksradikalen Bewegung in der BRD gibt es häufig Vorbehalte gegenüber Protestbewegungen, die keine rein linksradikalen Positionen vertreten. Sich an solchen Protestbewegungen zu beteiligen, schließen viele Linksradikale aus, um nicht reformistische oder sogar reaktionäre Kräfte zu unterstützen. Während Anna Jaclard im Interview von einer “sehr diversen” und “unkontrollierbaren” “Volksbewegung” der Gelbwestenbewegung spricht. In Deutschland wurde in einigen linksradikalen Veröffentlichungen die reaktionären Kräfte in den Vordergrund gestellt sowie einer vermeintlichen “Querfront” eine Absage erteilt.

Auch in unseren Organisation löste die Gelbwestenbewegung Diskussionen aus:

Die kollektive Einmischung in ideologisch breit aufgestellte Kämpfe bzw. Massenkämpfe ist wichtiger Teil unserer politischen Praxis. Massenkämpfe und Massenbewegungen sind allerdings oft widersprüchlich und häufig ideologisch diffus. Große Protestbewegungen entstehen vor allem infolge von konkreten Problemlagen und Betroffenheiten der Menschen. Wenn diese Problemlagen von vielen Menschen als unerträglich empfunden werden, haben diese Protestbewegungen das Potential stark anzuwachsen und sich zuzuspitzen. In diesen Dynamiken liegen sowohl Chancen als auch Risiken.

Wenn wir uns an Protestbewegungen beteiligen, gehen wir auf der Basis einer klaren Analyse und Strategie vor – gerade auch um reaktionäre Apekte und rechte Einflussnahme (beispielsweise Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus) einzudämmen. Bei unserem Mitwirken in Protestbewegungen können wir durchaus eine kritische Position zu bestimmten Aspekten bzw. Akteur*innen der Bewegung einnehmen. Eine klare Analyse und Strategie ermöglicht es uns auch innerhalb der Bewegung vorhandene anarchistische Momente und libertäre Entwicklungen wahrzunehmen und zu fördern. Innerhalb der Protestbewegung und ihren Dynamiken von Anwachsen und Zuspitzung wird ausgehandelt, welche ideologische Richtung sich durchsetzt. Wenn wir nicht Teil dieses Aushandlungsprozesses sind, überlassen wir anderen Akteur*innen das Feld.
Ein Risiko zu scheitern besteht dabei natürlich. Das heißt, dass in Massenprotesten die fortschrittlichen Momente und Positionen sowie ihre Basis an den Rand gedrängt werden; und dass reaktionäre Aspekte sich zu einer dominierenden Mehrheit innerhalb der Massenproteste ausbreiten. Unsere Aufgabe ist es, die Entwicklungen innerhalb von Protestbewegungen fortlaufend zu analysieren und unsere Schlüsse aus diesen Prozessen zu ziehen. Sollten sich breit aufgestellte Protestbewegungen unwideruflich zu reaktionären Protestbewegungen entwickeln, müssen wir uns kollektiv und koordiniert aus diesen Protestbewegungen zurückziehen.

Als Anarchist*innen und Linksradikale ideologisch breit aufgestellte Protestbewegungen von vornherein zu meiden, bedeutet immer auch die fortschrittlichen und emanzipatorischen Aspekte darin nicht zu stärken.
Wir sind daher überzeugt davon, dass wir aus dem linksradikalen Selbstbezug ausbrechen müssen um uns der Möglichkeit der sozialen Revolution anzunähern. Das geht nur über die Beteiligung an Revolten, Streiks und Massenkämpfen aller Art, soweit sie auch ein emanzipatorisches Potential besitzen. Gängige Meinung innerhalb des linksradikalen Spektrums, dass eine Teilnahme an einer Bewegung nur möglich ist, wenn mensch auch alle Aspekte dieser Bewegung unterstützt oder eine gemeinsame Grundlage mit allen beteiligten Gruppen sucht, halten wir für falsch. Falsch deswegen, weil die Konsequenz aus dieser Haltung zur Aufgabe einer klassenkämpferischen Praxis und der Möglichkeit der sozialen Revolution führt. Wir sind nicht bereit diese Aspekte des Anarchismus aufzugeben. Das utopische Moment ist Teil einer libertären emanzipatorischen Bewegung. Ohne dieses Moment muss jede Bewegung, jede Organisation zur Komplizenschaft mit den bestehenden Verhältnissen degenerieren, sich in Nischen einrichten, in der Konsequenz zahnlos werden.

Hier nun das Interview:

Seit über einem halben Jahr sind die «Gilets Jaunes» in Frankreich auf der Strasse und haben mit ihrem Protest eine veritable Staatskrise ausgelöst. Stand die deutschsprachige Linke den Gelbwesten anfänglich eher skeptisch gegenüber, wurden sie bald zum Beispiel, dass sich in diesen düsteren Zeiten doch noch etwas bewegt – natürlich nicht ohne eine Prise Revolutionsromantik. Am 1. Mai in Zürich haben wir mit Anna Jaclard von der Alternative Libertaire (AL) über den Charakter der Gilets Jaunes, antifaschistische Interventionen und die Rolle der radikalen Linken gesprochen.

Anna, die Bewegung der Gelbwesten geht seit über einem halben Jahr jeden Samstag auf die Strasse. Warum sind so viele Leute nicht müde?

Dafür gibt es mehrere Erklärungen. Zum einen war die Bewegung am Anfang massiv. Es fühlte sich so an, als wäre fast die ganze Bevölkerung auf den Strassen. In allen Familien gab es mindestens eine teilnehmende Person. Auf der Arbeit war das Thema in aller Munde. Es herrschte eine unglaubliche Euphorie. Später jagte die Gewalt vielen Menschen Angst ein. Dadurch liess die Mobilisierungskraft nach.

Dass die Proteste aber noch immer andauern, liegt auch an der enormen Breite der Bewegung. Viele unterschiedliche Bevölkerungsteile schlossen sich den Gilets Jaunes an. In der Folge bildeten sich in allen Städten und auch in kleinen Ortschaften Gruppen. Diese treten regelmässig zusammen und organisieren sich in Versammlungen.

Ein weiterer Grund für das Anhalten der Proteste ist der Zulauf langjähriger Aktivist*innen. Nach einer anfänglichen Zurückhaltung schlossen auch sie sich in grosser Zahl der Bewegung an. Sie trugen ihre Erfahrung aus früheren Demonstrationen und Kampagnen in die Bewegung hinein. Das war hilfreich.

Weiterlesen: www.ajour-mag.ch/gilets-jaunes

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