“Den Faschismus stoppt man auf der Straße!” – Internationale anarchistische Erklärung zur Lage in Brasilien

Unser Vorwort: Seit der Präsidentschaftswahl am 30. Oktober herrscht in Brasilien, dem gröten Land Lateinamerikas, ein dauerhafter Ausnahmezustand. Anhänger:innen des faschistischen Ex-Präsidenten und Wahlverlierers Jair Bolsonaro, der die Legitimität des Ergebnisses immer wieder angezweifelt hat, mobilisieren zu Massenprotesten und fordern das Militär auf, die neue Linksregierung unter Lula mit einem Putsch abzusetzen. Dieser versucht sich gleichzeitig wenig glaubwürdig als Verteidiger der Armen und der Demokratie zu präsentieren. Angesichts dieser unübersichtlichen und gefährlichen Lage haben wir mit unseren Schwesterorganisationen aus Lateinamerika und anderen Teilen der Welt eine gemeinsame internationale anarchistische Erklärung verfasst, um einen klaren Standpunkt in dieser Situation deutlich zu machen. Wir freuen uns, wenn ihr sie lest, diskutiert und verbreitet.

Kein Fußbreit dem Faschismus! Kein Vertrauen in die Regierung! Den Faschismus stoppt man auf der Straße!

Angesichts der von den Anhänger*innen Bolsonaros ausgerufenen Mobilisierungen, die einen eindeutigen Versuch darstellen, eine Bundes-Intervention gemäß Artikel 142 der brasilianischen Verfassung zu fordern – was nichts anderes ist als eine indirekte Aufforderung zu einem Militärputsch – erklären wir:

  1. Unsere energischste Ablehnung der Mobilsierungen der rechtsextremen Bewegung und der Rufe nach einem Staatsstreich und/oder einer militärischen Intervention.
  2. Diese Bewegung, die man heute als “Bolsonarismus” bezeichnen kann und die sich bei den Wahlen in der Liberalen Partei ausdrückt, ist sehr tief in die brasilianische Gesellschaft eingedrungen und repräsentiert leider die Positionen eines wichtigen Teils der Bevölkerung. Das Wirken der neuen evangelikalen Kirchen, die fremdenfeindlichen, armenfeindlichen, hasserfüllten, diktatur- und putschfreundlichen Diskurse sowie die ultramachoistischen und autoritären Diskurse, die sich über die Politik und die Medien verbreitet haben und das gesamte soziale Gefüge durchdringen, sowie das Vorgehen der Bosse gegen die Arbeiter:innen und die Menschen von unten haben dieses Monster hervorgebracht.
  3. Als weitere Faktoren können wir den Progressivismus (Anmerkung des Übersetzers: Gemeint ist die politische Strömung die Lula und andere Mitte-Links Regierungen in Lateinamerika repräsentieren. Sie steht für ein politisches Projekt, das auf Reformen und die Erstickung sozialer Bewegungen in den Institutionen setzt statt für den Aufbau von revolutionärer Gegenmacht von unten) und den ideologischen Diskurs der Arbeiterpartei (PT) und Lula ausmachen, die nicht weniger Verantwortung tragen. Denn sie haben einen Pakt mit “Gott und dem Teufel” geschlossen, um diese Wahlen zu gewinnen, was sie mit einem sehr knappen Vorsprung auch getan haben. Lula hat einen Pakt mit der rechten Mitte und den industriellen Unternehmer:innen im Zentrum des Landes geschlossen. Ein Beleg dafür ist, dass der gewählte Vizepräsident Alckim ist, ein Kandidat, der bei mehreren Gelegenheiten direkt von der Bourgeoisie aufgestellt wurde. Die PT wiederholt das gleiche Schema wie in der zweiten Amtszeit von Dilma Rousseff (Anmerkung des Übersetzers: Nachfolgerin von Lula ins Präsidentenamt nach seinen ersten Amtszeiten, ebenfalls von PT), die Temer zum Vizepräsidenten machte, der dann den “sanften Putsch” anführte und den Weg für den Aufstieg von Bolsonaro ebnete (Anmerkung des Übersetzers: Rousseffs liberal-konservativer Vize Temer wurde nach einem erfolgreichen Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff 2016 selbst Präsident Brasiliens. Er war immer wieder in Korruptionsskandale verwickelt. 2019 folgte ihm Bolsonaro ins Amt). Man kann der faschistischen Bewegung nicht mit demokratisch-liberalen Diskursen und Haltungen ideologisch begegnen. Bolsonaro hat während seiner Präsidentschaft (2019-2023) ein protofaschistisches Regime eingesetzt, dem weder die PT noch die sozialen Bewegungen, die leider dieser Partei untergeordnet sind, auf der Straße entgegengetreten sind.
  4. Die Agrarindustrie, die die Amazonasregion und Mato Grosso zerstört, ist eine der Fraktionen der herrschenden Klasse, die den Bolsonarismus an der Macht halten will, auch wenn die PT ihre Interessen nicht berührt. Andere Wirtschaftszweige haben in diesen Tagen zu rechten Mobilisierung aufgerufen. Sicher ist, dass diese Fraktionen die Absicht haben, das Regime Bolsonaros aufrechtzuerhalten oder zu vertiefen, weil für sie jede fortschrittliche Person oder jeder fortschrittliche Sektor der Gesellschaft “ein Roter”, “ein Kommunist” oder “die Inkarnation des Bösen und des Teufels” ist. Dieser Diskurs des Kalten Krieges hat heute nichts mehr mit der Realität zu tun hat, ist aber in der Mentalität eines bedeutenden Teils der brasilianischen Bevölkerung verankert und wird von ihm als real empfunden. Wenn es dem Bolsonarismus gelungen ist, etwas aufzubauen, dann ist es Subjektivität vor allem in breiten Bevölkerungsschichten (Anmerkung des Übersetzers: Gemeint ist, dass es Teile der Bevölkerung gibt, die, gefüttert mit den “alternativen Fakten” und Diskursen der Bolsonaro-Regierung und der ihr treuen Medien, einen grundsätzlich anderen Blick auf die Realität entwickelt haben). Die Linke hat versagt, oder sie war zumindest ziemlich lasch. Die Tatsache, dass sie alles der Regierung und einem Anführer wie Lula anvertraut hat, dass sie die Straße verlassen hat, dass sie aufgehört hat zu mobilisieren, hat den Weg frei gemacht für die Rechten. Sie hat den Feinden unserer Klasse die Straße, den Protest und die Unzufriedenheit überlassen.
  5. Deshalb vertrauen wir als politisch organisierter Anarchismus mehr denn je auf die Kräfte der brasilianischen Bevölkerung, auf die Mobilisierung mit einer Perspektive der Klassenautonomie (Anmerkung des Übersetzers: Das bedeutet, dass sich soziale Bewegungen der Arbeiter:innenklasse unabhängig vom Staat und den Parteien organisieren), die die Faschisten zurückweichen lassen wird, die jeden Putsch- oder Destabilisierungsversuch zum Scheitern bringen wird, und die vor allem den Protagonismus der Menschen von unten (Anmerkung des Übersetzers: Dieses Konzept hängt eng zusammen mit der Idee der Klassenautonomie. Um sie zu schaffen, soll auf eine Situation hingearbeitet werden, in der alle maßgeblichen politischen Impulse aus den sozialen Bewegungen, also von unten kommen, statt aus den Institutionen. Die Klasse soll zur Protagonistin ihrer eigenen Befreiung werden) schmieden wird, um den Hunger, den Autoritarismus, die Eliten der Bosse und ihr Gesellschaftsprojekt zu besiegen. Wir sind gespannt, was passiert.

FÜR EINEN SIEG VON UNTEN IN BRASILIEN UND LATEINAMERIKA!
DIE STRASSE GEHÖRT DEN MENSCHEN VON UNTENNICHT DEN MILIZEN UND IHREN KOMPLIZ:INNEN!
NIEDER MIT DEM FASCHISMUS!
HOCH MIT DENENDIE KÄMPFEN!
FÜR SOZIALISMUS UND FREIHEIT!